Reisetagebuch

Der California Zephyr erklimmt  wieder neue Berge: Die Sierra Nevada – die schneebedeckte Bergkette.
Der California Zephyr erklimmt wieder neue Berge: Die Sierra Nevada – die schneebedeckte Bergkette.

Mit dem Zug über die Sierra Nevada

Nevada - Als ich am dritten Morgen aufwache bin ich schon in Nevada. Der 16. US-Bundesstaat auf meiner Coast2Coast-Roundup-Reise durch Nordamerika. Die roten, fichtenbestandenen Canyons von Colorado habe ich genauso hinter mir gelassen wie die bizarren Tafelberge von Utah. Nun fahre ich durch die Wüste. Eine Straße verläuft manchmal parallel zu der Bahnstrecke. Viel Verkehr ist dort nicht. Manchmal ein einsamer Truck, aber auch ein Schulbus.

Ich versuche mir vorzustellen, wie das Leben hier draußen in der Wüste sein muss. Denn offenbar leben hier ja Menschen. Ich stelle es mir hart vor, denn es wächst kaum etwas. Oft ist der Boden auch von Salzkrusten überzogen. Teile Nevadas sind militärisches Sperrgebiet, vor allem die Nellis Range im Süden, in der sich die Nevada Test Site befindet, auf der während des Kalten Krieges Atomwaffen getestet wurden. Doch die Zugstrecke führt durch das nördliche Drittel des Staates, der sich bald zu einem Vorgebirgsland wandelt.

Nadelbäume bedecken das Gebirge, in den Tälern leuchten die Oberflächen dunkelblauer Bergseen im Sonnenlicht. Mein Zug fährt hier an vielen Stellen nur noch Schrittgeschwindigkeit.
Nadelbäume bedecken das Gebirge, in den Tälern leuchten die Oberflächen dunkelblauer Bergseen im Sonnenlicht. Mein Zug fährt hier an vielen Stellen nur noch Schrittgeschwindigkeit. 

Schließlich erklimmt der California Zephyr wieder neue Berge: Die Sierra Nevada – die schneebedeckte Bergkette. Schnell wird klar, woher der Name kommt, denn hier oben liegt auch Mitte Mai noch eine geschlossene Schneedecke. Nadelbäume bedecken das Gebirge, in den Tälern leuchten die Oberflächen dunkelblauer Bergseen im Sonnenlicht. Mein Zug fährt hier an vielen Stellen nur noch Schrittgeschwindigkeit. Lange Güterzüge kommen entgegen und sie haben Vorrang vor dem Personenverkehr. Vor einem Tunnel steht der California Zephyr dann sogar eine ganze Weile und es wird empfindlich kalt. Die Klimaanlage läuft, wir sind oben in den Bergen und draußen liegt Schnee. Die Temperaturen im Waggon würden locker eine Winterjacke rechtfertigen. Aber ich friere ohnehin seit drei Tagen in meinem Pullover. Um mich abzulenken, öffne ich eine Konservendose. Ich habe nur Proviant für zwei Mahlzeiten am Tag dabei und komme so pro Tag auf nicht einmal 1000 Kalorien. Kein Wunder friere ich noch mehr als sonst. Wo soll der Körper auch die Energie zum Heizen hernehmen. Mit klammen Fingern löffele ich mit meinem Plastik-Spork, den ihr schon aus den letzten beiden Folgen kennt, den kalten Muscheleintopf und blicke in den verschneiten Bergwald der Sierra Nevada, während der entgegenkommende Güterzug sich am California Zephyr vorbeischiebt. Dann ist es geschafft und wir können in den Tunnel einfahren, dem man ansieht, dass er noch mühsam aus dem Fels geschlagen wurde. Hier ist nichts betoniert und ich gehe davon aus, dass es sich hier um die Strecke handelt, die im 19. Jahrhundert als eine der ersten Eisenbahnverbindungen über die Rocky Mountains den Pazifik erreichte.
Erheiterung bringt mir eine indischstämmige Familie, die in Salt Lake City zugestiegen ist und seitdem zwei Reihen hinter mir sitzt. Für den etwa sechs oder sieben Jahre alten Jungen ist die Bahnfahrt ein einziges Abenteuer. Als wir in den Tunnel einfahren, ist er völlig aus dem Häuschen und ruft: „Wow, jetzt fahren wir in eine Höhle.“  

 Ich habe nur Proviant für zwei Mahlzeiten am Tag dabei und komme so pro Tag auf nicht einmal 1000 Kalorien.
 Ich habe nur Proviant für zwei Mahlzeiten am Tag dabei und komme so pro Tag auf nicht einmal 1000 Kalorien. 

 

Auf der anderen Seite des Tunnels geht es schließlich langsam bergab. Es scheint, als wäre nun auch der Höhenkamm der Sierra Nevada überwunden. Hier liegt nun kein Schnee mehr und der Wald wird von knorrigen Kiefern geprägt. Es würde mich nicht überraschen hier einen Bären zu sehen und der indische Junge hinter mir rechnet noch mit etwas anderem. Als wieder einmal ein Schaffner vorbeikommt fragt er ihn, ob der schon mal den "Big Foot" gesehen habe. „Klar“ antwortet er mit ernster Miene "ein paarmal schon. Der ist krass."

Fortan klebt der Junge mit großen Augen an der Scheibe und sucht den Wald nach Bigfoot ab. Auch ich kann nicht umhin, mir vorzustellen, wie ich für den Bruchteil einer Sekunde die Silhouette eines großen, leicht gebückt gehenden haarigen Wesens mit langen Gliedern zwischen den Baumstämmen erblicken und danach nie wirklich wissen würde, was ich da eigentlich gesehen habe. Aber ich sehe gar nichts. Nicht mal ein Reh oder Kaninchen. Die Lokomotive macht genug Lärm, um jedes Wildtier in weitem Umkreis zu vertreiben.
Zur Mittagszeit erreicht der Zug die Ebene, besiedeltes Gebiet und den Bundestaat Kalifornien. Besonders ins Auge fällt, dass auch die Freiflächen entlang der Bahngleise besiedelt sind. Von Obdachlosen, die dort in Zelten leben. Immer wieder sieht man solche Zeltlager. Offensichtlich ist der amerikanische Traum für sehr viele Menschen in Kalifornien nicht wahr geworden und sie sind nun hier am Rande der Zivilisation gestrandet.

 
Karte mit der heute zurückgelegten Strecke


In den letzten zwei Tagen bin ich durch wildromantische Landschaften der Rocky Mountains und der Wüste von Nevada gefahren, die mich vergessen ließen, dass in den USA viele soziale Herausforderungen unbewältigt sind und die Schere zwischen arm und reich deutlich weiter auseinanderklafft als in den Sozialstaaten Europas.

Auf den Holzplanken der überdachten Bürgersteige erzeugen die Absätze meiner Cowboystiefel einen ausgezeichneten Sound. Seit vier Tagen habe ich die Stiefel nun nicht mehr ausgezogen, aber sie sind so bequem, dass ich keinen Bedarf dafür sehe.
Auf den Holzplanken der überdachten Bürgersteige erzeugen die Absätze meiner Cowboystiefel einen ausgezeichneten Sound. Seit vier Tagen habe ich die Stiefel nun nicht mehr ausgezogen, aber sie sind so bequem, dass ich keinen Bedarf dafür sehe. 

 

Bis kurz vor den Bahnhof von Sacramento hausen Menschen in Zelten oder kleinen Buden aus Planen und Brettern. Um halb drei fährt der California Zephyr in die Endstation ein. Mühsam schäle ich mich aus meinem Sitz, in dem ich die letzten drei Tage verbracht habe und den ich nur für Pinkelpausen verlassen habe. Nach ein paar Metern auf dem Bahnsteig komme ich aber schnell wieder in die Gänge, die Bewegung tut gut. Um mein Hauptgepäck muss ich mich glücklicherweise nicht kümmern, denn ich habe es schon in der letzten Folge in Springfield aufgegeben. Eine Annehmlichkeit der Amtrak-Personenzuggesellschaft, die erst jetzt in Sacramento Bedeutung gewinnt. Hier habe ich nämlich fast neun Stunden Aufenthalt, bis ich mit Coast Starlight-Zug die letzte Etappe nach Seattle antreten werde. Seit fünf Tagen habe ich mich nur von Konservendosen ernährt. Es ist höchste Zeit, was Ordentliches zu essen. Im ersten vernünftigen Burger-Laden stille ich meinen Hunger. Die Altstadt von Sacramento ist fußläufig gut erreichbar und ich habe noch ein paar Stunden rumzukriegen. Durch eine Unterführung gelangt man in den historischen Ortskern des alten Sacramento und betritt sofort eine moderne Westernstadt. Zwei- und dreigeschossige große Holzhäuser. Auf den Holzplanken der überdachten Bürgersteige erzeugen die Absätze meiner Cowboystiefel einen ausgezeichneten Sound. Seit vier Tagen habe ich die Stiefel nun nicht mehr ausgezogen, aber sie sind so bequem, dass ich keinen Bedarf dafür sehe. Das hat Zeit bis Seattle. Die Altstadt wird vom Sacramento River begrenzt, wo ein Raddampfer aus dem vorletzten Jahrhundert zum schicken Restaurant umgebaut wurde. Ich lasse mich am Ufer auf einer Parkbank nieder und beobachte die Menschen, die sich für das Wochenende schick gemacht haben, nun am Ufer entlang flanieren und die Nachmittagssonne genießen. Ein schwarzes Paar mit Dreadlocks hat auf einem Klapptisch ein DJ-Pult und Musik-Boxen aufgebaut, beschallt die Umgebung mit einem Reggae-Potpourri und hat sichtlich Freude daran. Der Joint, der zwischen den beiden hin- und herwandert, trägt sicherlich zu ihrer gelösten Stimmung bei. Ich kann bis zum Schluss nicht sagen, ob sie ihre Vorführung aus Spaß an der Freude abhalten oder ob es ein Geschäftsmodell ist. Trinkgeld kriegen sie nämlich keines. Der Raddampfer ist nicht das einzige Verkehrsdenkmal hier unten am Sacramento River. Direkt daneben stehen zahlreiche Dampflokomotiven und Waggons aus der Zeit als die Eisenbahn die wichtigste und einzige Verbindung über den nordamerikanischen Kontinent war. Hier war für die Züge wie, für meinen California Zephyr Endstation. Den Weitertransport übernahmen von hier die Raddampfer, die Post, Fracht und Passagiere den Sacramento River hinunter nach San Francisco und damit an die Pazifikküste transportierten. Außer sonntags, dann fuhren die Dampfer nicht und der Postverkehr musste auf das Beförderungsmittel zurückgreifen, das zuvor bis zur Fertigstellung der Eisenbahn die einzige schnelle Verbindung gewährleistete.  

Ich würde gerne unbefangener und leichtfüßiger zwischen den Lokomotiven und Waggons an der ehemaligen Endstation der Eisenbahn dieser vergangenen Ära der Verkehrsgeschichte hindurchspazieren. Leider bin ich zwar ohne meinen Koffer, aber nicht ganz ohne Gepäck unterwegs. Noch schleppe ich einige Liter Wasser und Konservendosen für einen weiteren Reisetag als Proviant mit mir rum. Zusätzlich zum üblichen Handgepäck. Deswegen mache ich mich lieber auf den Rückweg durch die alte Innenstadt und durch die Unterführung in die neue Downtown von Sacramento, um dort noch etwas Warmes in geordneten Verhältnissen zu Abend zu essen. Unterwegs komme ich dann auch an einer lebensgroßen Bronze-Skulptur eines Pony-Express-Reiters vorbei.
Ich hatte die naive Vorstellung, dass ich in der Innenstadt von Sacramento an jeder Ecke etwas zu essen finden würde. Google zeigt mir auch jede Menge Restaurants an, doch die sind alle schon geschlossen. In der Innenstadt wird tagsüber gearbeitet, gegessen wird offenbar zuhause in den Vorstädten. Viele Blocks schleppe ich meinen Rucksack auf der Suche nach einem Lokal und nehme schließlich, das einzige, dass ich überhaupt noch finde. Also gibt es zur Abwechslung mal Pizza, von der ich die Hälfte in einer Pappschachtel als Proviant für morgen mitnehme.
Dann ist es auch schon Zeit, dass ich mich allmählich auf den Weg zurück zum Bahnhof machen kann. Dazu durchquere ich das Gerichtsviertel von Sacramento, mit dem County Jail und dem State Court. Doch an jeder Ecke sieht man auch die Büros der Kautionsagenturen, die es bei uns nicht gibt. In ihren Fenstern leuchten die Neonreklamen mit ihren Telefonnummern. In den USA landet man ziemlich schnell im Gefängnis, aber wenn man jemanden hat, der die Kaution stellt, ist man bis zur Gerichtsverhandlung auch ziemlich schnell wieder draußen. Wenn man niemanden hat, dann helfen solche Agenturen aus, die für eine Provision das Geld hinterlegen. So viele, wie es von diesen Agenturen hier gibt, scheint das ein lukratives Geschäft zu sein.
Doch ein bisschen zu früh sitze ich wieder in der Wartehalle des Bahnhofs. Nur eine Handvoll andere Reisende warten vermutlich auf den gleichen Zug wie ich. Einige Obdachlose sitzen mucksmäuschenstill auf den Bänken. Trotzdem kommt irgendwann ein Sicherheitsmann und schmeißt sie raus. Sie tun mir leid. Beide. Denn auch dem Security-Mitarbeiter sieht man an, dass er es nicht gerne macht. Aber er muss, wenn er nicht bald selbst als Obdachloser nach einem geschützten Plätzchen suchen will.
Zwanzig Minuten vor Mitternacht kommt dann ein Amtrak-Mitarbeiter in die Bahnhofshalle, der alle Reisenden einsammelt, die nun mit dem Coast-Starlight Zug nach Seattle fahren wollen. Der Zug kommt von Los Angeles und fährt, wie es der Name schon sagt die sehenswerte Strecke entlang der Pazifikküste über Oakland, Sacramento, Portland nach Seattle. Ein Drittel der Gesamtdistanz hat er hier in Sacramento schon hinter sich gebracht, zwei Drittel liegen noch vor ihm. Wie ein Hirte führt der Bahnmitarbeiter uns Passagiere auf den richtigen Bahnsteig. Einer älteren Dame trägt er darüber hinaus auch noch den Koffer. Einmal mehr bewundere ich den Charme des Zugreisens in den USA. Auf dem Bahnstieg muss ich nicht lange warten, dann fährt der Coast Starlight ein. Wieder einmal steht die Schaffnerin an der Waggontür und gibt die handgeschriebenen Platzkarten aus. Mittlerweile bin ich diesbezüglich schon routiniert. Ziemlich müde suche ich meinen Platz und richte mich für die fünfte Nacht im Zug ein. Es war ein langer Tag und ich schlafe ein, bevor der Zug seine nächste Haltestelle erreicht.

Related Articles

Jessica Welt

Seit etwa drei Jahren lasse ich auf meinen Reisen einen GPS-Tracker mitlaufen und füge alle zurückgelegten Routen in diese Karte ein. Strecken, die ich auf dem Landweg zurückgelegt habe, kennzeichne ich orange, welche, die ich zu Fuß gelaufen bin in grün und die, die ich auf dem Wasser per Boot oder Schiff bewältigt blau.